Zwischen Großstadt und Pferdekutschen
Verkopft, Kilometer-sammelnd und ausgebremst.
Budapest in Zeitlupe
Wir hatten dazugelernt. Wir sind zwar auf großer Reise und kommen durch so viele Orte, an denen es Unmengen zu entdecken gibt. Aber wir können nicht alles sehen und alles ausprobieren und alles tun! Und deshalb gingen wir die Zeit in Budapest ein wenig entspannter an und rasteten einfach mal. Im wohl chaotischsten Zuhause, das wir je haben kennenlernen dürfen. Wir durften bei Olgá für drei Tage unterkommen und verbrachten ganz viel Zeit Zuhause, um Artikel zu verfassen, unsere Habseligkeiten zu ordnen, mit Zuhause zu telefonieren und zu schreiben und unsere Weiterreise zu organisieren. Gepaart mit vielen Tassen Kaffee war das sehr wertvoll und reinigend.
Die Dinge, die wir dann tatsächlich in Budapest unternahmen, konnten wir in vollsten Zügen genießen. Denn das neue Motto lautet: "Weniger ist mehr!" Und Begegnungen sind uns mehr wert, als hektisch allerhand Orte abzuklappern.
Zum einen genossen wir einen feuchtfröhlichen Abend mit Bier und Wein direkt am Donauufer, wo wir die überragend beleuchtete Stadt betrachten durften. Weiter zogen wir dann in eine der vielen Ruin-Bars, die das Nachtleben von Budapest berühmt und einzigartig machen. Ruin-Bars sind einst brachliegende Gebäude, die in den vergangenen 15 Jahren in abgefahrene und saumäßig kreativ-chaotische Bars umfunktioniert wurden. ...Und auch Tommi und ich liefen einfach nur grinsend und mit offenem Mund staunend durch die vielen verschachtelten Räume und freuten uns über so viel Einfallsreichtum auf einem Fleck!
Am zweiten Tag machten wir mit Olgá einen Ausflug in ihre Lieblingstherme. Dass wir an solch einem abgefahrenen Ort geführt würden... Sie hatte es uns prophezeit. Nur ein Hauch von Tageslicht fällt durch die kleinen Luken in den Kuppeln des türkischen Badehauses. Überall riecht es nach Schwefel. Es herrscht mystische Stimmung. Und Du musst es Dir selbst ansehen - diese Mischung aus eleganter orientalischer Architektur und deutschen Hinweisschildern aus sozialistischen Zeiten. Die Király-Therme ist echt ein Erlebnis wert!
Doch am Morgen, als wir in Budapest abfahren wollten, wurde mal eben unsere komplette Reiseplanung in der Waschtrommel - und wir darin - durch gewirbelt! Aber sowas von. Der Mann von Olgá, ein passionierter Reiseleiter, kam von einer Reise zurück, erfuhr von unserer Reiseplanung und rief unsere Berg-Sehnsucht in uns wach! Er redete uns die kommende Donau madig, da diese eben ein Fluss ist, der sich über Hunderte von Kilometern lang durch flache Landschaft schlängeln würde. Stattdessen warten, wenn wir eine andere Route in Richtung Schwarzes Meer wählen würden, die Karpaten auf uns, ein abgefahrenes Hochgebirge, dass wir im rumänischen Transsilvanien überqueren könnten und für uns ein absoluter Augenschmaus werden würde. Tommi und ich waren Feuer und Flamme, wurden von Beiden mit Proviant ausgestattet, machten im Eilmarsch alle nötigen Besorgungen und fanden uns abends 20 Minuten vor Ladenschluss im Kartenladen, um danach schleunigst die Stadt zu verlassen. Was dort passierte, das war für die kommenden Zeit einfach nur prächtig! Nach heißen Diskussionen unter Zeitdruck kamen wir zu folgendem Schluss: Die Berge wären wunderbar und gerne wollen wir sie erkunden. Aber nicht jetzt! Denn wir wollen die Donau, unsere stetige Reisebegleiterin, Badezimmer und Abkühlung an so ziemlich jedem zu heißen Mittag nicht missen. ...und unserer eigentlichen Route treu bleiben, an der wir uns schon seit Wochen und Monaten freuen.
Seitdem freuen wir uns jeden einzelnen Tag nochmal viel mehr an dem, was wir gerade tun. Und Berge kommen auf der Route noch genug!
Wir wurden auch direkt am selben Abend noch so beschenkt. Denn wir wurden von Ghula in sein Zuhause eingeladen, durften aus einem kurzen Gespräch heraus bei ihm übernachten. Nachdem wir unsere viel zu großen Fahrräder in einem dafür viel zu kleinen Fahrstuhl nach oben transportiert hatten, fanden wir uns kurzerhand mit einem Bier auf seinem Balkon wieder und hatten gute Gespräche bis tief in die Nacht.
Ein bisschen Halb-So-Gut
So radelten wir zufrieden mit unserer Route am nächsten Tag weiter. Die Umgebung veränderte sich schlagartig - plötzlich waren Pferdekutschen als neue Verkehrsteilnehmer auf den Straßen, viele Menschen waren auf den Feldern anzutreffen und Hirten waren mit ihren Tieren unterwegs.
Die Zeit in Ungarn erlebten wir allerdings als zweischneidig. Einerseits hatten wir wirklich prägende ulkige Begegnungen mit einzelnen Menschen. Drum herum war der Aufenthalt im Land für uns aber eher ein wenig karg. Statt wie sonst zu grüßen, schauten die Menschen im Normalfall weg, wenn wir vorbei radelten und alles war gar nicht so herzlich.
Die kommenden Radl-Tage waren wirklich unspektaktulär, heiß und trocken, wie der Blumenstrauß erahnen lässt und drei Ereignisse sind erwähnenswert:
* Wir durften auf einem der unzähligen Fischerstege nächtigen! Und das Zelt passte wie angegossen darauf.
* Bei einem Mittagspicknick auf einem Dorfplatz gesellte sich die redselige Irene zu uns und unterhielt sich eine halbe Stunde auf Ungarisch mit uns. War das herrlich! Wir verstanden gegenseitig kein Wort, sie blieb geduldig, erzählte weiter und wir 3 hatten den Spaß unseres Lebens. Tommi und ich interpretierten einfach fleißig und alles, was sie sagte, gab so irgendwie Sinn.
* Das nächste Mittagspicknick wiederum wurde uns zum bisher größten Verhängnis der Reise. Wir aßen schlechte Wurst und es folgten zwei Tage mit Kotzeritis und an ein Hotelbett gekettet.
So fuhren wir einige Tage später als geplant in Richtung der Grenze, um Ungarn zu verlassen und in Serbien einzuradeln und hatten im Vorhinein gar nicht im Blick, dass dieser Grenzübertritt von solch politischer Brisanz sein würde. Über zehn Kilometer radelten wir privilegiert mit unseren deutschen Pässen an einer Mauer aus uniformierten und schwer bewaffneten ungarischen Soldaten vorbei, die mit Ferngläsern die Felder nach möglichen flüchtenden Menschen absuchten. Noch nie waren wir so nah an und im politischen Weltgeschehen und sahen, was an den Grenzen abgeht! Die kompletten zehn Kilometer entlang der Grenze säumten alle 50 bis 100 Meter Verstecke, Zelte oder Hochsitze mit jeweils bis zu vier Soldaten die Straße. Diese grüßten uns fröhlich, während sie geduldig observierten, ob Menschen illegal die Grenze übertreten möchten. Noch nie haben wir solch eine Präsenz erlebt, noch nie haben wir so viele Waffen gesehen, noch nie wurde uns die Bedeutung einer geschlossenen Landesgrenze so deutlich vor Augen geführt,... Wir waren nichts anderes als schockiert.