Da hat sie uns wieder, die Soziale Arbeit.
Drei Wochen Zuhause bei Life Chance
Vor drei Jahren spielte sich in Tiflis eine große Tragödie ab. Eine plötzliche Flutwelle setzte große Teile der Stadt mitten in der Nacht unter Wasser. Das Drama daran: ein Wohngebiet wurde überflutet, wo Menschen verunglückten und ihre Zuhause verloren, fahrende Autos wurden weggeschwemmt, der Zoo verschwand unter den Wassermassen. 300 Tiere starben, viele brachen aus und streunten daraufhin durch die Stadt. Es herrschte großes Chaos, weil unter anderem Nilpferde, Bären, Wölfe, Affen und ein Tiger unterwegs waren. Dieser tötete sogar einen Menschen. Im Radio wurden Durchsagen gebracht, wo die Tiere gesichtet wurden und in der Stadt herrschte Ausnahmezustand... Jeder Georgier schmückt diese Geschichte noch immer schockiert persönlich aus.
Hier kannst Du eine Kurzreportage dazu ansehen.
...Wir arbeiteten nun über drei Wochen bei Life Chance mit, einem sozialen Projekt, das sich direkt neben besagtem Zoogelände befindet (höchstens 50 Meter Luftlinie zum Löwen- und Tigergehege). Mit dieser Geschichte im Hinterkopf zogen wir auf dem Gelände ein und waren schwer verwirrt, als in unserer ersten Nacht dort (es war Vollmond), der Löwe nicht mehr zu brüllen aufhörte. Es ging Tine im ersten Moment durch Mark & Bein und auch Ohrstöpsel halfen nichts. Inzwischen gehört sein trauriges Gebrüll zum Alltag dazu.
Wir fühlen uns ein bisschen wie im Dschungel.
Unser Leben im Jugendhaus
"Da machen wir jetzt gar keine große Sache daraus - natürlich kommt ihr zu uns! Bedenkzeit? So deutsch müssen wir das ja nicht angehen. Was gibt es denn da zu überdenken?" Und so stand schon direkt beim ersten Kaffee fest, dass wir bei Life Chance mitarbeiten dürften, endlich mal wieder im sozialen Bereich einen Platz und dort für einige Zeit ein Zuhause finden würden. Was in der Organisation Life Chance eigentlich passiert, kannst Du in unserer Projektbeschreibung erfahren.
Wir kamen an mit gepackten Rädern und die Jugendlichen ließen uns gar keine Wahl, als uns direkt wie zu Hause zu fühlen. Wir wurden vom ersten Tag an eingebunden und verbrachten so die kommenden Wochen mit vielen Küchenparties, spontan ausgeklügeltem Deutschunterricht, vielen Karten- und Tischtennis-Turnieren, Büroarbeit, Konzept-Weiterentwicklung der Jugendhilfe-Einrichtung und diversen amüsanten Kaffee-Kränzchen. Wir gestalteten Alltag gemeinsam und waren einfach 24 Stunden da. Das war ganz schön wertvoll für alle Seiten!
Sehr besonders war das Ganze auch für uns alle, weil die Einrichtung im Normalfall keine Freiwilligen hat. Trotz allem waren sich die Jugendlichen von Anfang an darüber bewusst, dass sie uns in naher Zukunft wieder verabschieden müssten, weshalb sie sich vorher fest vorgenommen hatten, uns nicht zu fest in ihr Herz zu schließen. Wir vermuten leider, dass alle Seiten versagt haben. Aber das hat ja auch etwas sehr Schönes.
Während wir uns mit viel Zeit und Liebe einbrachten, die Ukulele bespielten und dem Löwen lauschten, lehrten uns die Jugendlichen ganz schön viel über Georgien. Wir wurden im georgischen Tanz unterrichtet. Eine abgefahrene alte Kunst! Wir wurden herzzerreißend besungen. Und erhielten Unterricht in der georgischen Küche. So produzierten wir beispielsweise in mindestens vier Stunden Arbeit an die 300 Khinkali (georgische Maultaschen, die wir im vergangenen Artikel erwähnt hatten). Hier die Fotostory mit den einzelnen Arbeitsschritten dazu:
Es waren mit Abstand die besten, die wir jemals im Land verzehrt haben! Und das waren einige...
Was Du sonst über unsere Zeit beim Projekt wissen magst, fragst Du uns einfach persönlich. Und alles Weitere erzählen einige Bilder.
Einmal Lächeln, bitte.
...Manchmal ist die Welt schon lustig.
Während wir eines Tages am Arbeiten sind, kommt dort ein Freund zu Besuch und es stellt sich heraus, dass Zaqaria Fotograf ist. Als er von unserer Reise erfährt, fragt er uns ununterbrochen aus. Er ist street photographer, mag sich aber von all denen abgrenzen, die z. B. Menschen und Hunde fotografieren, die auf den Straßen leben, und sich damit am Leid anderer bedienen. Stattdessen möchte er vor allem Tiflis als eine fröhliche sportliche Stadt nach außen präsentieren. Und so griff er unsere Geschichte direkt auf und führte uns zu einer Love-Story-Fototour in die Altstadt aus, wo wir in der frühen Morgensonne unser Bestes gaben.
Seht mehr von Zaqaria auf seiner Homepage.
Eingetaucht in die Georgische Kultur des Weines
Zu unserem vollgepackten Arbeitsalltag hatten wir noch eine sogar für Georgier sehr außergewöhnliche Unterbrechung in der Weinregion Kakheti im Osten Georgiens.
Im Land des Weines wurden wir tatsächlich zu einer Weinernte auf dem Dorf eingeladen! Und die Projektleitung Lela gab uns sofort frei, weil man so etwas nicht 2x erlebt - so ihre Aussage.
Wir hatten einige Wochen vorher Nadja & Maho auf der Straße kennengelernt - ein deutsch-georgisches Pärchen, das den Sommer immer in Tbilisi, der Heimat von Maho, verbringt. Mit ihnen hatten wir es sehr nett, weshalb uns die Beiden kurzerhand mit zum Onkel aufs Dorf schleppten, um uns in die einzigartige Wein- und Gastkultur Georgiens einzuführen. Und uns wurde nicht zu viel versprochen!
Der Busfahrer des Minibusses wurde instruiert uns vor dem Haus des Onkels abzusetzen - denn natürlich weiß man im Dorf die Telefonnummer des Busfahrers. Und plötzlich saßen wir vier Stunden nach Feierabend irgendwo an der Grenze zu Russland in einem Hof an reich gedecktem Tisch und tauchten für 2 Tage ab in die Welt des Weines...
Der Autor John Steinbeck beschrieb einst:
"Der Anblick der Tafel aber brachte uns beinahe um. Sie war ungefähr vierzehn Fuß lang, und sie war beladen mit Gerichten, und ungefähr 20 Gäste waren da. Ich glaube, dies war die einzige Mahlzeit, die wir jemals erlebten, wo gebratenes Huhn als Vorspeise galt (...). Und das Schreckliche an allem war, dass alles köstlich schmeckte. Die Düfte waren alle neu, und wir wollten alles versuchen. Und wir starben beinahe, weil wir uns überaßen." (Ein Gastmahl in der Kolchis, 1948)
Treffend wiedergegeben hat der Gute das!
In Georgien gibt es eine sehr ausgeprägte Tischkultur und der Gast im Haus ist eine große Ehre und ein Geschenk Gottes. Es wird nichts vor ihm gehütet oder versteckt. Alles was man hat, wird aufgefahren und großzügig zelebriert. Die Gläser sind immer voll, die Teller mit verschiedenen Speisen werden übereinander gestapelt, so voll ist der Tisch (keine Übertreibung!) und es werden immer weitere Speisen zu Tisch gebracht.
Zu all dem gibt es einen Tischmeister, den "Tamada", der das Geschehen am Tisch mit Trinksprüchen lenkt. Er bringt die Trinksprüche, die tatsächlich eher ausführliche und wahnsinnig wertschätzende Reden waren, in einer festgelegten Reihenfolge. So werden Gott, der Frieden, die Gäste geehrt und auf diese getrunken. Es wird an die Eltern, Geschwister und Verstorbenen gedacht. So geht es immer weiter. Man trinkt auf die kleinen Kinder, guten Erinnerungen, die Frauen, das Vaterland, die Natur, die Freundschaft... Dabei trinkt man nicht einfach. Der Tamada hält seine Rede, während der ganze Tisch lauscht, dann trinkt er sein Glas leer. Jeder am Tisch erwidert das, indem er eigene Worte hinzufügt und danach auch trinkt. Ohne Grund trinkt niemand! Sobald ein Thema beendet ist, wird nachgeschenkt und der Tamada schneidet bald das nächste an.
...Wir waren schwer beeindruckt! Von der Ernsthaftigkeit und von den wertschätzenden Worten. Unsere Familien können sich direkt darauf einstellen, dass wir nach unserer Rückkehr einen solchen georgischen Abend machen. Denn um den heißen Brei reden, das kann jeder.
Wir kamen also an und saßen keine zwei Minuten später an einem solchen festlichen Tisch und aßen und lauschten und hielten Reden, die übersetzt wurden, tranken zu falschen Zeitpunkten (aber dem Gast wird eigentlich jeder Fehler verziehen) und verstanden die Welt nicht mehr.
Am nächsten Morgen fanden wir uns zwischen den Weinreben wieder. Gemeinsam mit vielen anderen Helfern ernteten wir was das Zeug hielt. Viele befreundete Weinbauern halfen mit - denn jeder hilft sich gegenseitig. Die Weinbauern haben in diesen Tagen folglich viel zu tun! Am Ende wurden 4,5 Tonnen Trauben davon gefahren und wir waren stolz.
Zur Feier der vielen Helfer war am Morgen ein großes Schwein geschlachtet worden. Wie dieses arme Tier geschrien hat, weil es wusste, wie ihm geschehen würde! Herzzerreißend. Wirklich.
...Geschmeckt hat es am Abend trotzdem, als wir an einer langen Tafel im Hof feierten. In jeglicher kulinarischen Ausführung. Der Tamada gab wieder sein Bestes, wir Gäste tranken fleißig, die Männer sangen später wunderschön.
Nun wissen wir, dass wir uns zurück in Deutschland eine ganze Scheibe abschneiden können, was Gastfreundschaft anbelangt.
Und sagen "MADLOBA" (Dankeschön), dass wir so herzlich aufgenommen worden waren.
Gestern Abend haben wir mit gut bürgerlicher Küche - Geschnetzeltem und selbstgeschabten Spätzle - mit all unseren Jugendlichen unseren Abschied im Projekt gefeiert. Es war ein wundervoller Abend mit vielen unerwarteten lieben Worten und einer Wettkampf-Runde "Schlag Tommi & Tine". Wir haben blind Joghurt um die Wette gefuttert, Karten gepustet und Rätsel gelöst. Am Ende stand es unentschieden zwischen Georgien und Deutschland. Dabei wollten wir doch Deutschland gewinnen lassen. :)
Nun ist die wertvolle Zeit hier in Tiflis und vor allem im Projekt vorbei und wir müssen uns mal wieder verabschieden.
Neue Radl-Abenteuer warten auf uns. Aber mal wieder gehen wir - mit schwerem Herzen bepackt - weiter, weil wir sie aus unserem Alltag gehen lassen müssen, unsere lieben aufgeweckten Jugendlichen.
Es liegen viele hunderte Kilometer in den armenischen Bergen und dann irgendwann im Iran vor uns. Huiuiui.