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4805 Kilometer - Unser Kulturkreis auf den Kopf gestellt

Unser Kulturkreis auf den Kopf gestellt

...und wir fühlen uns wohl.

Ich verlasse die hier übliche Stehtoilette, richte vor dem Spiegel mein Kopftuch zurecht, und gehe denselben Weg zurück aus dem Gebäude, der mit gezeigt wurde. Vorbei am Schwesternzimmer, wo eine Schwester gerade ein Tablett mit dampfenden Tee-Tassen bringt. Auf der rechten Seite OP-Säle, links Patientenzimmer. Im nächsten Raum kniet ein Mann auf dem Teppich und betet. Ich verlasse das Krankenhaus und stehe plötzlich wieder auf der trubeligen Straße. Menschen eilen an mir vorbei, schauen mich an. Begleitet von fröhlichem Winken höre ich aus einem fremden Mund das bereits bekannte Rufen: "Welcome to Iran!"

 

Die letzten Kilometer Armenien bis zum Grenzposten

...brachten wir dank dem netten iranischen LKW-Fahrer Rachma ganz schön schnell hinter uns.

Eigentlich waren wir am Radeln. Beim ersten ordentlichen Anstieg entschied sich Tommi trotz der mittlerweile eingetretenen Kälte erstmal seine geschlossenen Schuhe mit seinen Flip-Flops zu ersetzen. Plötzlich hielt ein riesiger LKW mit quietschenden Bremsen an, der Fahrer winkte uns fröhlich zu und lud uns ein bei ihm mitzufahren. Dieses Angebot ließen wir uns nicht lange durch den Kopf gehen. Kurz später parkten unsere Packesel im leeren Container auf dem Rücken des Lastwagens und wir vorne in der Fahrkabine. Gemeinsam mit Rachma überquerten wir zwei echt fiese Bergpässe und nahmen stattdessen an der ersten Leereinheit "Iran" teil: Wir lernten erste Worte auf persisch, durften sein Essen verkosten und an seinem heftigen Tee-Konsum teilhaben. 

 

Die letzten zehn Kilometer vor der Grenzstation radelten wir am Grenzfluss Aras und endlosem Stacheldrahtzaun entlang - unter strenger Beobachtung von Videokameras und Grenz-Türmen.

Aufgeregt warfen wir uns in Schale. Lange Kleidung für uns Beide, Tine mit Kopftuch. ...und zeigten unser erstes Visum der Reise vor.

Jetzt würde alles anders werden.

 

Iran. Lustige & Knallharte Fakten sowie Geschichten der ersten Tage.

* Am ersten Tag wurden wir von einem Polizisten kontrolliert, der unsere Pässe und Visa sehen und uns in der Region registrieren wollte. Als er unser Heimatland wissen wollte, fragte er Tine doch ernsthaft: "Made in Germany?"

Da die Situation doch sehr angespannt und ernst war, trauten wir uns nicht mehr uns gegenseitig anzusehen. Im Augenwinkel erwischten wir uns allerdings bis lange nach der Frage mit dem ein oder anderen zuckenden Mundwinkel. 

 

* Picknick-Kultur im Iran

Die Iraner lieben das Picknick und man kann wirklich an jedem schattigen Fleckchen picknickende Menschen finden. Und nicht nur das - in wirklich jeder Stadt, in allen Parks und an allen anderen schönen Orten am Straßenrand sind große überdachte Pavillons gebaut, ausschließlich für Picknick-Exzesse. Dazu bringen die Menschen tatsächlich selbstgekochtes Essen mit, das mit dem Gaskocher wiederum erhitzt wird. Danach wird selbstverständlich noch der Tee-Pott aufgesetzt!

Wir lieben diese Tradition.

 

* "Hello Mister. How are you? Thank you!"

Jeder, wirklich jeder, kennt diesen Spruch! Sogar kleine Kinder oder ältere Herren. Als Fahrradfahrer auf den Straßen unterwegs werden wir deshalb mehrmals täglich damit angesprochen. Eigentlich unentwegt, auch Tine.

Wenn wir allerdings zurückfragen, wie es dem Gegenüber denn gehe, kommt nur selten eine ordentliche Antwort. Auf die Rückfrage "How are you?" folgt meist nur "Thank you." Denn kaum jemand weiß, was der Ausspruch eigentlich bedeutet und was er da von sich gibt... 

 

* Die Iraner und der Tee

Dass im Iran viel Tee getrunken wird - diese Tatsache eilt dem Land ja lange voraus. Wie der Zucker zum Tee allerdings konsumiert wird, das war uns zuvor nicht klar. Anders als in allen bisherigen Ländern nimmt man den Zucker oder das Bonbon nämlich direkt in den Mund, trinkt sich einen Schluck Tee und lutscht dabei den Zucker. ...Und vom Zucker nicht zu knapp.

 

* Transgender im Iran

Da es im Islam verboten ist zwei Geschlechter zu haben, ist eine OP zur Geschlechtsumwandlung im Iran kostenfrei.

 

* Wir Touristen.

Es ist das erste Land, wo die Menschen wirklich nicht fertig werden mit gucken, wenn sie uns sehen. 

Wir stehen an einer Kreuzung und warten bis wir diese überqueren können. Ein Bus steht vor uns in der Automenge. Mindestens zwei Drittel der Menschen im gefüllten Bus beobachten uns interessiert und aufregt, freuen sich so, fangen an zu tuscheln, nervös zu lächeln und winken.

Auf der Straße kommt aus verschiedenen Richtungen ein "Hello", ein "Welcome", "How are You?", "Thank You", Blicke folgen uns und neben Standardsätzen versuchen so viele Menschen ein Gespräch aufzubauen. 

Richtig schön empfinden wir den Umgang der Iraner mit uns Touristen im Normalfall. Es ist das erste Mal in einem Land der Fall, dass die Menschen tatsächlich richtig interessiert sind, Fragen stellen, mit uns sprechen wollen und das Interesse auch nach dem ersten Smalltalk bestehen bleibt. 

 

* "Daumen hoch" ist im Iran ein Schimpfwort und mit unserem Mittelfinger gleichzusetzen. 

Die ganze bisherige Reise über war der Daumen unser Hilfsmittel Nummer 1, um über die Sprachbarriere hinweg zu kommunizieren. In unseren Köpfen ist mittlerweile jedes "Danke", "gut", "es schmeckt lecker", "schön hier", "alles in Ordnung" mit einem Daumen hoch verbunden. Im Iran: eher unangebracht!

 

* Wirtschaft und Inflation

Den Namen des Mannes, der wirklich genug Medienpräsenz für sich alleine einnimmt, wollen wir hier gar nicht erwähnen. Jedenfalls gehen von der USA ordentliche Sanktionen aus, die unter den Menschen im Iran ganz schön Schaden anrichten. Und diese bekommen wir während unseres Aufenthaltes hautnah mit. Die Wirtschaft leidet sehr, weil viele internationale Geschäftsbeziehungen eingestampft werden und sich massenweise ausländische Investoren aus dem Land zurückziehen.  

So viele Menschen verlieren somit ihre Arbeit, ihr Geld ist nichts mehr wert, der Arbeitslohn bleibt trotzdem derselbe und so herrscht wirklich sehr betrübte Stimmung unter dem Volk. Der Großteil der Menschen, die wir im Moment treffen, strebt danach ins Ausland auszuwandern. 

 

* Die iranische Toilette

Es hat einige Tage gedauert, bis wir es gewagt haben, eine vertraute Iranerin nach dem Umgang mit iranischen Toiletten zu fragen. Der Unterschied zu Deutschland: Es handelt sich um Stehtoiletten und neben jeder dieser Toiletten befindet sich ein Schlauch oder zumindest eine ganz spezielle Art von Gießkanne. ...Anders als erwartet, sind diese Utensilien allerdings nicht zum Toilette putzen gedacht, sondern ersetzen tatsächlich das Klopapier!

 

* "Copyright" - das gibt es im Iran nicht.

Somit findet man hier alle nur mögliche Markenartikel. Was man wirklich bekommt, weiß man nie. Sogar unseren Lonely-Planet-Reiseführer haben wir für rund 1,80 Euro gekauft (statt ursprünglich 30 Euro). Erkannt hätten wir es alleine allerdings nicht, dass wir eine Kopie in den Händen halten. Diese Schlawiner kaufen tatsächlich einfach ein Buch, um es anschließend in ihrem Laden eigenständig zu vervielfältigen. 

 

* Trends im Iran

Menschen filmen die Geburt ihres Kindes.

Junge Frauen lassen sich ihre Nase operieren und laufen danach stolz mit Pflaster auf dem neuen Stück durch die Stadt. 

 

* Woran wir uns erstmal gewöhnen mussten:

Die veränderten Rollen als Mann und Frau.

Tine darf als Frau Männern nicht die Hand geben bei Begrüßung und Abschied. Tommi ebenso nicht den Frauen.

Zudem ist der Iran ein Land das jede Frau zum Tragen des Kopftuchs verpflichtet. Für Tine auf dem Radl und mit Hitze ist das die Spaßreduktion schlecht hin. Immerhin haben in diversen öffentlichen Toiletten viele Frauen an ihr herum gezupft und sie dabei in die verschiedensten einigermaßen komfortablen Techniken des Kopftuch-Tragens eingeweiht. 

Außerdem gibt es im Iran taroof.

Das bedeutet für uns Verwirrung pur. Jeder bietet uns hier etwas an. Tee, Picknick, Früchte,... Teils ist das ernst gemeint und teils nicht - taroof eben. Dies beschreibt eine Art der Höflichkeit, bei der sich Menschen gegenseitig etwas anbieten oder kein Geld für ihre verkaufte Ware oder Dienstleistung verlangen wollen. Ernst gemeint ist das im taroof-Fall allerdings nicht. Es ist eben nur eine förmliche Höflichkeit, die dann abzuschlagen ist. Ansonsten wird im Endeffekt das Gegenüber auf das Bezahlen bestehen.
Besteht der Gegenüber nach zwei bis dreimaligem Verneinen dennoch auf sein herzliches Angebot, ist dieses auch ernst gemeint. Iraner erkennen die Situation meist direkt - wir dagegen fragen lieber einmal zu viel nach. Wie wir nun aber feststellen, sind sehr viele der Angebote an uns tatsächlich ehrlich. Sogar so viele, dass wir erst einmal lernen mussten die ganzen Picknickaufforderungen, Teeeinladungen, Obstgaben oder sonstige Dinge auszuschlagen ohne dabei zu unhöflich zu sein. Nun läuft das! Zum Glück - denn sonst würden wir vor lauter Essen und Tee überhaupt nicht mehr vom Fleck kommen. 

 

 

Unsere ersten Tage im Iran in Bildern

Ganz unerwartet In Tabriz: Zwei Wochen Zeit unter Freunden

Musik der letzten Wochen: Mohsen Namjoo - Yare Jani

 

Apropos vom Fleck kommen.

Wir radelten also nach Tabriz ein, die erste große Stadt im Iran. Wie ein Teppich säumen die nicht enden wollenden Häuserreihen das Tal zwischen den roten schroffen Bergen, die die Stadt rundum einfassen. 1,8 Millionen Menschenleben liegen vor uns. Außerdem 18 Kilometer durch Großstadt und entlang dem Autobahn-Seitenstreifen durch die Nacht. 

Unterkommen durften wir bei Zahra & Arash, einem iranischen Radler-Pärchen, das uns für zwei Nächte aufnehmen wollte. Dass aus den ursprünglich zwei Nächten mehr als zwei Wochen werden würden, konnte ja keiner ahnen.

 

Eine wertvollere Zeit hätte uns nicht beschert werden können.

Es war so geruhsam hier und auf wohl keine andere Weise hätten wir besser im neuen Land ankommen, so viel über den Iran, die iranische Kultur, die Gedanken der jungen Generation und das System der Islamischen Republik Iran erfahren können. ...Über die Regierung werden wir ausführlich berichten, sobald wir aus dem Iran ausgereist sind. Jedenfalls beantworteten uns die Beiden so wahnsinnig geduldig tausende Fragen.

 

Tine hatten den ersten ordentlichen Fahrradunfall der Reise und dabei mit dem Gesicht gebremst. Glücklicherweise ohne langfristige Verletzungen. Unsere Schutzengel begleiten uns also zuverlässig.

 

Wir erkundeten die Stadt mit der blauen Moschee und dem riesigen Bazaar.

Wie durch ein Labyrinth schlendern wir voller Entdeckerdrang durch die Gänge und Gassen des größten überdachten Bazaars der Welt. Über uns erheben sich immer wieder große steinerne Kuppeln. Vorbei an den Gewürzständen, bei denen man am liebsten in jeden Gewürzsack fassen möchte, kommen wir zur Teppich-Abteilung. Die weltweit berühmten Tabriz-Teppiche werden hier in Massen ausgestellt. Zu schade, dass die handgemachten Stücke zu mickrigen Preisen von den Webenden abgekauft und danach zur Freude des Händler-Geldbeutels im Bazaar teuer verkauft werden. Beeindruckend war es trotz allem anzusehen! Wie auf einer Schnitzeljagd fragen wir uns bei den Händlern durch, und entdecken nach und nach neue Ecken. Wir werden nicht fertig mit Gucken, während um uns herum die Frauen mit ihren langen Gewändern vorbeizufliegen scheinen. Gewürze, Lederwaren, Früchte, Tee, Nüsse, Haushaltswaren, Schmuck, Innereien, Wollwaren,... Am Rand sitzt ein alter Mann auf seinem Karren und isst Kekse. Als wir vorbei schlendern, sieht er uns freudestrahlend an und streckt uns tatsächlich seine letzten Kekse entgegen. 

So oft ergeben sich solche klitzekleinen unglaublichen Situationen!

 

 

Von Tabriz führten uns Zahra & Arash gemeinsam mit ihren Freunden in die nördlichsten Ecken des Irans in eine Art grüne Oase in den Bergen, wo wir zwischen saftigen Wiesen und zufriedenen Büffeln hindurchwanderten. Für uns wie in den Alpen passte dieser Anblick ganz und gar nicht zum restlichen unglaublich trockenen und schroffen Iran, wie wir es auf dem Hausberg von Tabriz erlebten.

Zuhause machten wir gemeinsam Musik, tranken unzählige Tassen Tee, spielten und lebten wie in einer zufriedenen WG. Zu einem ordentlichen Tag gehörte natürlich jedes Mal auch die Frage: "Can we stay another night?"

 

Und weil wir es so schön haben, radeln wir nun morgen zu fünft los in Richtung Isfahan. Zahra & Arash, der radelnde Belgier Quinten (er ist seit drei Tagen auch noch zu unser Radl-Familie hinzugestoßen), Tommi und Tine.

Zum ersten Mal werden wir nun als große Radl-Crew unterwegs sein!

Hoffentlich bekommen wir nach 30 Tagen unsere Visumsverlängerung genehmigt.

 

Außerdem stecken wir auf lange Sicht gesehen etwas im Iran fest, weil wir nach Ablauf unseres Visums etwas eingekästelt sind zwischen Winter im Norden, Meer im Süden und Krisengebieten im Osten und Westen. Wo es uns nach dem Iran also hin verschlägt, bleibt selbst für uns noch spannend!