Volle Dröhnung Herbst!
Heimatgefühle in Estland, Lettland und Litauen
Und plötzlich kamen wir in Estland an und waren zurück in diesem Europa...
In einem Land, in dem die Menschen eine uns komplett unverständliche Sprache sprechen. Ein Land, in dem wir Beide noch nie gewesen waren und von dem wir weder kulturell noch geschichtlich viel wussten. Und wir hatten Heimatgefühle wie nie!
Der Supermarkt fühlte sich seltsam vertraut an mit dem uns aus Deutschland bekannten Sortiment. Dass wir die Aufschriften nicht lesen konnten, war da das geringste Problem. Wir hielten Euro-Geldscheine in den Händen. Auf den Straßen waren Arbeiter mit Laubpustern unterwegs. Was für eine absurde Erfindung, vor allem, wenn es draußen windet. Die Menschen sahen plötzlich alle aus wie wir. Das machte das Leben für uns sehr kompliziert & anstrengend, weil wir doch aus den letzten Monaten gewöhnt waren, alle zu grüßen, deren Erscheinungsbild ähnlich wie unseres war. Gleichzeitig war es ein Traum nicht mehr der Star der Straßen zu sein und sich einfach wie jeder andere von A nach B zu bewegen. Es gab Schrebergärten und alles war hip & sauber. Wir konnten die Menschen und ihr Verhalten einschätzen. Doch das Verrückteste: Die Menschen hielten sich allesamt - sogar die coolen Teenys - an die Verkehrsregeln und warteten an der noch so unbelebtesten Kreuzung auf das grüne Männchen der Ampel.
Das Baltikum
Eigentlich ist es eine Schande über "das Baltikum" und "die Balten" zu sprechen. Denn eigentlich handelt es sich um die Menschen aus Estland, Lettland und Litauen, die allesamt nicht gerne über einen Kamm geschert werden. Und nun tun wir es doch...
Einen Monat lang befanden wir uns in besagten drei Ländern. Die Sonne zeigte sich in der gesamten Zeit drei Mal. Wir haben keinen Tag ohne Niesel oder Regen erlebt. Und somit hatte das Wetter auf jeden Fall die Hosen an bei der Tages- und Etappenplanung!
Dadurch haben wir uns aber in den beiden Hauptstädten Tallinn & Riga mal richtig Zeit genommen diese zu erkunden, ordentlich auszugehen und unser geschichtliches Unwissen aufzuarbeiten.
Eine großartige Erfindung ist die "Free Walking Tour", die auf der ganzen Welt in Städten angeboten wird, und bei der wir auf der Reise mehrmals teilgenommen haben. Wir hatten jeweils gewitzte junge Damen, die uns zwei bis drei Stunden durch die Stadt geführt, und große & kleine Anekdoten zur Geschichte des Landes, aus deren Familien und über Traditionen & Eigenheiten der Einwohner erzählt haben. Überragend! Die Teilnehmenden können danach, wenn sie mögen, etwas ins Kässchen werfen. Auf diese Weise wurden wir wieder ganz schön von der Geschichte und der Vergangenheit Deutschlands eingeholt. Über dreihundert Jahre (1230 bis 1561) hatte der deutsche Orden die baltischen Länder als sein Territorium erobert. Dies hat bis heute großen Einfluss unter anderem auf die Sprache, aber auch auf die Essensvielfalt. Vor allem die jüngere Geschichte fanden wir spannend und super krass: Bis zum Ende des 1. Weltkrieges fiel die Herrschaft der drei Länder unter das russische Zarenreich. Danach hatten sich die drei Staaten endlich ihre Unabhängigkeit erkämpft! Das Problem war, dass der 2. Weltkrieg nicht lange auf sich warten ließ und wiederum die Russen und Deutschen die Länder an sich reißen wollten. Und so kam es am Ende, dass die Sowjetunion bis 1990 den Takt der Länder vorgab und alle drei baltischen Länder erst dann ihre Unabhängigkeit erklärten. Unser Tour-Guide Raimonda erklärte uns stolz, dass Estland, Lettland und Litauen zum ersten Mal 29 Jahre am Stück unabhängig sind! Wahnsinn, oder?! So eine junge Geschichte. Bis heute herrscht mit all den Einflüssen keine Einigkeit im Volk sondern stattdessen verschiedene Lager, wer nun eigentlich die Freiheit gebracht hat.
Baltischer Weg
Die "Balten" haben echt eine Meisterleistung gerissen im Kampf für deren Unabhängigkeit! 1989 taten sich Menschen aller drei Staaten zusammen und bildeten eine 650 Kilometer lange Menschenkette, die von Tallinn bis Vilnius führte. In einer friedlichen Demonstration sangen über eine Million Menschen in der Hoffnung auf freie Heimatländer! Die Aktion ist an sich schon krass. Mit dem Hintergrund, dass dies alles noch ohne Internet und Mobiltelefone organisiert wurde, ist das einfach nur eine großartige Aktion! Um so beeindruckender, das die Unabhängigkeit kurz darauf erklärt werden konnte.
Alles für den Alkohol
In Skandinavien herrscht ein ordentlicher Run auf die Alkohol-Läden in den Nachbarländern. Die Norweger strömen nach Schweden - dort ist es günstiger. Die Schweden tun dasselbe und reisen nach Dänemark, um sich das betörende Gesöff günstiger zu beschaffen. Und die Dänen wandern in die deutschen Supermärkte.
Doch im Baltikum läuft der Hase nicht anders! Die Finnen nehmen die Fähre nach Estland. Dort stehen schon Reisebusse bereit, die in die Grenzorte Lettlands zu den Stores fahren. Diese werden kistenweise leer gekauft.
Kulinarisches Baltikum
Mit zwei lieben Schweizern Sandra & B schlemmten wir uns einen Morgen lang durch den Markt von Riga. Dieser war einst der größte Markt Europas. Nach deren Unabhängigkeit wollten die Letten etwas Einzigartiges bauen. Das Problem war, das die Staatskasse ziemlich leer gefegt war... So bauten sie alte deutsche Zeppelin-Hangars ab und errichteten damit fünf riesige Markthallen - das Aushängeschild des Landes.
Die Küche der drei Länder ist durch die jahrhundertelange Okkupations-Geschichte stark von Russland, Polen und Deutschland geprägt. Alles echt schwere Kost mit Kartoffeln, viel Fleisch, Sauerkraut und Wurst,... Und alles, was irgendwie geht (und auch alles andere) wird in allen Variationen eingelegt!
Plausch in der Sauna
Das ist schon sehr ulkig, das diese Nordlichter sich in der Mehrheit auf der Straße erstmal sehr verschlossen verhalten, und sich stattdessen aber nackt in der Sauna treffen und sich dort stundenlang verquatschen.
Wir waren wirklich glückliche Wesen mit der Tatsache, dass es einfach überall Saunas gab!
...Der Sowjetunion ist es übrigens zu verdanken - oder zu verschulden -, dass wir in Deutschland nur die "Finnische Sauna" kennen, und von der "Estnischen" noch nie etwas gehört haben, obwohl die Saunakultur hier ein ähnliches Ausmaß annimmt.
Das Reich der Moore.
Der Este Sven, bei dem wir auch den Abend lang deren Sauna mit Badesee feierten und für eine Nacht eingeladen waren, sagte: "Es gibt wohl keinen Ort im Land, wo Du im Umkreis von 10 Kilometern kein Moor findest." Deshalb finden die Sonntagsspaziergänge im Baltikum meist im Sumpf statt.
Und so übernachteten wir mit unserem Zelt eine Nacht neben einem der besagten Moore, standen früh auf und zogen bei Morgenfrost los, um die Atmosphäre zu erleben und ein paar Bilder zu schießen. Friedvoll, ruhig, düster. Vogelscharen, beim Laufen ein Knistern unter den Füßen, Seen aus Schwarztee-Wasser.
Wir im Baltikum.
Ein Jahr Herbst-Abstinenz und wir hatten schon vergessen, was Herbst eigentlich bedeutet. Regenschauer. Wind. Und eine Sonne, deren Existenz man irgendwann nicht mehr zu glauben vermag.
So blieben Regen & Gegenwind unsere treuen Begleiter und wir saßen vollkommen vermummt auf unseren Rädern, traten stupide in die Pedale - den Blick geradeaus -, oder hangelten uns von Bushaltestellen-Häuschen zum nächsten. Den Blick zur Seite zu wenden, war jedes Mal fatal, denn dann zog der Wind in die Ritzen...
Für unsere Herzen ging es dann doch etwas schnell mit diesem Europa und der Heimkehr. Das haben wir allerdings erst im Baltikum gemerkt - waren wir die Wochen davor doch sehr im Reisetrubel verstrickt. In China gab es einfach so viel zu organisieren und das Visum endet nunmal, ob man will oder nicht. Da blieb kaum Ruhe, um die Ankunft am Ziel Peking so wirklich richtig zu realisieren. Dann hatten wir endlich das Visum für Russland in der Tasche und saßen auch schon im Zug. Doch statt der herbeigesehnten Ruhe, waren auf ein Mal unsere Räder weg... Und plötzlich die letzte Passkontrolle und wir betraten das Schengen-Gebiet mit einem großen Windstoß Heimat statt Asien-Flair.
Zum Glück hatten wir dann im Baltikum einige ruhige Momente, um all den Trubel und die nahende Heimkehr zu verarbeiten und endlich zu realisieren, dass wir unser großes Reiseziel erfolgreich erreicht hatten!
Zum Abschluss ließen wir uns für fast eine Woche auf der Kurischen Nehrung in einem klitzekleinen Häuschen nieder.
Die Kurische Nehrung ist eine Halbinsel, deren Gebiet die Russen und Litauer sich teilen. Noch nie in unseren Leben haben wir vier Wände so gefeiert. Draußen tobten Stürme. Der Regen gab sein Bestes. Und uns war es egal - aber sowas von! Wir hatten das wohl gemütlichste Zuhause der Welt in einem völlig verschlafenen Fischerdörfchen, wo zwei Mal täglich ein Bus kommt und der Laden, der auch nur nach Anfrage öffnet, uns mit dem Nötigsten versorgte. Mehr gibt es da auch nicht... Und das war gut so.
Die Natur der Kurischen Nehrung ist wunderschön - riesig hohe Dünen, ewige Wälder, weite Strände. Ein gebührender Abschluss unserer Zeit im Ausland also.
Von dort aus hüpften wir aufgeregt auf die Fähre, die uns von Klaipeda in Litauen direkt zurück nach Deutschland beförderte.
Aktueller Stand im Reiseteam
...Was ihr gelesen habt, ist eigentlich schon uralter Stoff! Seit Anfang November befinden wir uns nämlich schon auf deutschem Boden. Bis Weihnachten radeln wir nun ganz gemütlich in den Süden. Wie es uns hier in diesem Deutschland ergeht, berichten wir im nächsten Artikel.